Wie sieht der richtige Umgang mit Demenzkranken aus – und gibt es diesen überhaupt? Im Interview geben Franziska Weber, Teamleitung der vom Pflegeteam Zwick betreuten Demenz Wohngemeinschaft in Hammoor, und Nadine Koch, Assistentin der Geschäftsleitung für die Demenz Wohngemeinschaften bei Zwick, spannende Einblicke in das Leben in den Demenz WGs und geben praktische Tipps im Umgang mit Demenz.
Welche Arten von Demenz gibt es und wie unterschieden sich diese?
Nadine Koch: „Es gibt verschiedene Arten von Demenz, in den Demenz WGs haben wir hauptsächlich MieterInnen mit Alzheimer, vaskulärer Demenz sowie Lewy-Körperchen-Demenz. Die Demenzarten lassen sich von den Symptomen her im Alltag nicht klar voneinander abgrenzen, denn die Symptome ähneln sich in vielen Bereichen.
Alle Demenzarten sind in der Regel verbunden mit Gedächtnisverlust, Schwierigkeiten bei der Orientierung, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwierigkeiten sowie Sprachstörungen. Später kommen oftmals Persönlichkeitsveränderungen hinzu sowie der Verlust von Alltagskompetenzen. Viele unserer MieterInnen haben die Diagnose Demenz, ohne dass die genaue Art der Demenz genau festgestellt worden ist.“
Gibt es aus Ihrer Erfahrung heraus einen klassischen Verlauf bei einer Demenzerkrankung und kann man diesen beeinflussen?
Franziska Weber: „Wir erleben in den Demenz WGs bei allen MieterInnen einen sehr individuellen Verlauf, die Symptome können plötzlich auftreten oder sich langsam entwickeln. Mit Medikamenten lässt sich die Krankheit leider nicht aufhalten, die behandelnden Ärzte verschreiben abhängig von den Symptomen Medikamente zur Beruhigung, Regulierung des Schlafrhythmus oder zur Behandlung von Angstzuständen.
In den Demenz WGs achten wir neben einer ausgewogenen Ernährung darauf, dass die MieterInnen geistig und körperlich mobil bleiben, um der Demenzerkrankung bestmöglich entgegenzuwirken.“
Wie genau sorgen Sie in den Demenz WGs für geistige Abwechslung?
Nadine Koch: „Wir haben ein breites Programm an Aktivitäten, wie z.B. das gemeinsame Singen zu den Mahlzeiten und zwischendurch. Es ist erstaunlich, wie textsicher viele der MieterInnen dabei sind. Das Singen kann dabei unterstützen, Erinnerungen zu aktivieren – insbesondere bei Liedern aus der Jugendzeit werden oftmals starke emotionale und autobiografische Erinnerungen geweckt.
Zudem hat das Singen einen positiven Einfluss auf die Stimmung und das Gemeinschaftsgefühl in der WG. Die Freude und Zufriedenheit wirken Angstzuständen, die bei Demenz häufig sind, entgegen.
Einen ähnlich positiven Effekt haben Wortspiele und Reime. Durch das spielerische Training aktivieren und stärken sie das Gedächtnis und können helfen, Wortfindungsstörungen zu verbessern.“
Franziska Weber: „Darüber hinaus nutzen wir im Umgang mit Demenzkranken die sogenannten Motorik-Kissen. Diese Kissen sind mit verschiedenen Texturen, Knöpfen, Reißverschlüssen, Bändern und anderen Elementen ausgestattet und bieten dadurch eine Vielzahl an Sinneseindrücken. Sie fördern nicht nur die Feinmotorik, sondern stimulieren auch das Gedächtnis, indem sie bekannte Bewegungsmuster und Erfahrungen aktivieren.
Der Einsatz von Gedächtnis- bzw. Memory-Karten dient ebenfalls der Unterstützung des Gedächtnisses. Durch das Wiedererkennen und Erinnern von Bildern werden die kognitiven Fähigkeiten der MieterInnen unterstützt und das Gedächtnis trainiert.
Für Angehörige bietet sich hier die Möglichkeit, die Memory-Karten individuell anzupassen, z.B. durch die Auswahl von Fotos und Bildern, die für ihren Angehörigen eine wichtige Bedeutung haben.“
In den Demenz WGs spielt die Biographiearbeit eine wichtige Rolle. Was genau bedeutet das?
Franziska Weber: „Im Rahmen der Biographiearbeit erkunden wir gemeinsam mit den MieterInnen ihre Lebensgeschichte und stimulieren und trainieren dadurch ihr Gedächtnis, da wir immer wieder Erinnerungen abrufen.
Zudem lernen wir als Pflegeteam die MieterInnen durch die Biographiearbeit besser kennen und können uns dadurch viel besser auf ihre individuellen Bedürfnisse und Vorlieben einstellen.“
Nadine Koch: „Ein weiterer positiver Nebeneffekt ist, dass die Erinnerung an schöne Erlebnisse ihnen ein Gefühl von Freude vermittelt. Über vertraute und beruhigende Ereignisse zu sprechen kann zudem dabei helfen, Stress und Angst zu reduzieren, die leider häufig bei einer Demenzerkrankung auftreten.
Das Erzählen und Aufarbeiten der eigenen Lebensgeschichte hilft ihnen dabei, ein Gefühl von Identität und Selbstwertgefühl zu bewahren, auch wenn ihre kognitiven Fähigkeiten nachlassen.“
Welche Tipps haben Sie basierend auf Ihren Erfahrungen für Angehörige, die Demenzkranke zu Hause pflegen? Worauf sollten sie im Umgang mit Demenzkranken besonders achten?
Nadine Koch: „Die Pflege von demenzkranken Angehörigen ist in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung – hier ist es oft eine große Hilfe, wenn es ein intaktes Familien- oder Nachbarschaftsnetzwerk gibt.
Zum einen ist es natürlich wichtig, sich um die Bedürfnisse des Demenzkranken zu kümmern. Dazu gehört unter anderem, eine sichere Umgebung zu schaffen, wobei es nie eine 100%ige Sicherheit gibt. Sturzquellen, wie z.B. Teppichläufer in der Wohnung, sollten gemeinsam identifiziert und vermieden werden. Dazu gehört auch eine durchgehend gute Beleuchtung in der Wohnung, vor allem nachts.
Franziska Weber: „Besteht die Sorge, ob der demenzkranke Angehörige noch in der Lage ist, selbst zu kochen und vor allem auch daran zu denken, den Herd auszuschalten, wäre Essen auf Rädern, das täglich oder an bestimmten Wochentagen gebracht wird, eine Überlegung wert.
Durch die zunehmende Orientierungslosigkeit besteht oftmals die Sorge, dass der Demenzkranke „verloren gehen könnte“, weil er nach einem Spaziergang den Weg nach Hause nicht mehr findet. Hier leisten GPS-Tracker wertvolle Dienste, zu deren Einsatzmöglichkeiten wir Angehörige beraten.
Bei der medizinischen Versorgung – von der Medikamentengabe, Stützstrümpfe an- und ausziehen bis hin zum Verabreichen von Spritzen – können Angehörige einen ambulanten Pflegedienst, wie z.B. das Zwick Pflegeteam, hinzuziehen.“
Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es für Angehörige von Demenzkranken?
Nadine Koch: „Es gibt verschiedene Unterstützung- und Beratungsangebote, z.B. durch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft oder lokale Selbsthilfegruppen für Angehörige. Auch wir als ambulanter Pflegedienst bieten Angehörigen Beratungsleistungen und zeigen Ihnen, wie sie die Pflege zu Hause bestmöglich sicherstellen können.
Hadmut Verch, die sich in unserem Pflegedienst um Schulungen und das Qualitätsmanagement kümmert, bietet außerdem regelmäßig Infoabende für Angehörige von Demenzkranken an, um Einblicke in den Umgang mit Demenz zu geben und Fragen zu beantworten.“
Franziska Weber: „Wichtig ist, dass die Angehörigen ihr eigenes Wohlbefinden und ihre Belastungsgrenze im Blick behalten. Hier gibt es verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten durch unseren Pflegedienst oder andere ambulante Pflegedienste – angefangen bei der Unterstützung an einem oder mehreren Tagen in der Woche bis hin zur Kurzzeitpflege, bei der wir bei der Vermittlung passender Angebote unterstützen.“
Was ist aus Ihrer Sicht eine der wichtigsten Regeln im Umgang mit Demenzkranken?
Nadine Koch: „Mit Demenzkranken diskutiert man nicht, denn ein Demenzkranker hat immer Recht – das ist einer der Leitsätze in den Demenz WGs. Aufgrund der Erkrankung nehmen Demenzkranke ihre Umwelt anders wahr, hier macht es absolut keinen Sinn, sie von der Realität überzeugen zu wollen.
In einer der Demenz WGs war kürzlich eine Mieterin überzeugt davon, in der Nacht ein Kind zu Welt gebracht zu haben. Sie hatte eine Puppe neben sich liegen und betrachtete diese als ihr Neugeborenes. Die WG-MitbewohnerInnen und auch das Pflegeteam haben ihr zur Geburt gratuliert. Ein paar Stunden später war die Geburt im wahrsten Sinne des Wortes wieder vergessen. Es hätte in dieser Situation nichts gebracht – außer Verwirrung und Unsicherheit – der Mieterin zu erklären, dass sie in ihrem Alter gar kein Kind mehr bekommen kann, denn für sie fühlten sich in diesem Moment die Geburt und das Baby real an.“
Franziska Weber: „Es kommt immer mal wieder vor, dass einer unserer MieterInnen morgens die Demenz WG verlassen möchte, um zur Arbeit zu gehen. In diesen Fällen erklären wir ihnen dann, dass heute ihr freier Tag sei. Mit dieser Erklärung geben sie sich in der Regel zufrieden – sie davon zu überzeugen, dass ihr Arbeitsleben längst hinter ihnen liegt, würde sie in diesem Moment verunsichern.“
Wie lange im Voraus sollten Angehörige sich um einen Platz für ihre Angehörigen in einem Heim oder einer Demenz WG kümmern?
Nadine Koch: „Wir hören oft die Aussage: „Ich kann meinen Angehörigen erst in eine Einrichtung geben, wenn er/sie mich nicht mehr erkennt“. Das ist zwar nachvollziehbar, aber ebenso wichtig ist es, auf sich selbst zu schauen und eigene Belastungs- bzw. Überlastungsgrenzen anzuerkennen.
Ich rate dazu, sich rechtzeitig um einen passenden Platz zu kümmern, denn die Wartelisten sind in vielen Einrichtungen lang, zum Teil 12 Monate und länger. Und man muss den Platz ja nicht annehmen, wenn er frei wird, aber man hat die Wahl und eine Alternative.“
Wer trifft in der Regel die Entscheidung, in eine Pflegeeinrichtung umzuziehen – Demenzkranke, die noch im Frühstadium sind, oder ihre Angehörigen?
Nadine Koch: „95% der MieterInnen ziehen nicht auf eigenen Wunsch, sondern auf Wunsch der Angehörigen in die Demenz WG. Oftmals ist dies verbunden mit einem sanften Druck und dem Aufzeigen wachsender Herausforderungen, die auch Angehörige oder ein ambulantes Pflegeteam nicht mehr auffangen können.
Der Umzug sollte übrigens mit den demenzkranken Angehörigen offen besprochen werden, denn Notlügen, wie z.B. der übergangsweise Einzug in ein Hotel aufgrund eines Wasserschadens, können die Beziehung nachhaltig beeinträchtigen, wenn diese entlarvt werden.“
Wie ist der Ablauf, wenn Angehörige sich für einen Platz in der Demenz WG entscheiden?
Nadine Koch: „Wir führen zunächst ein Kennenlerngespräch mit den Angehörigen, um die aktuelle Situation zu klären. Gemeinsam mit den Angehörigen schauen wir, ob die Demenz WG überhaupt in Frage kommt. Erst wenn diese Entscheidung auf beiden Seiten positiv ausfällt, vereinbaren wir einen Besichtigungstermin in der Demenz WG. Die Besichtigung findet in der Regel ohne den demenzkranken Angehörigen statt, um eine emotionale Überforderung sowie eine kategorische Ablehnung im Vorfeld zu vermeiden.
Bei Interesse nehmen wir sie in unsere Interessentenliste auf und informieren sie, sobald ein Platz frei wird. Dann gibt es für die Angehörigen einiges zu organisieren, angefangen bei der Auflösung der Wohnung bis hin zum Umzug in die WG.“
Wie genau läuft der Einzug in die Demenz WG ab? Gibt es eine Eingewöhnung, in der auch die Angehörigen vor Ort sind?
Franziska Weber: „In den Demenz WGs gehen wir von einer Eingewöhnungszeit von ca. 8 Wochen aus. Wir entscheiden gemeinsam mit den Angehörigen, ob in dieser Zeit eine Begleitung vor Ort durch Familienangehörige erfolgt oder nicht – dies hängt davon ab, ob die Anwesenheit dem Demenzkranken hilft oder die Eingewöhnung eher schwieriger macht. Viele Angehörige nutzen die Eingewöhnungsphase für eine Auszeit, um selbst wieder Kraft zu schöpfen.
In dieser Phase besteht ein sehr enger Kontakt zwischen dem Pflegeteam und den Angehörigen: je nach Absprache und Wunsch rufen wir sie regelmäßig an oder informieren sie per E-Mail und informieren sie, wie sich ihre Angehörigen in die WG einfinden. Bei allen wichtigen Veränderungen meldet sich unser Team bei den Angehörigen.
Nadine Koch: „Viele Angehörige haben Angst vor einem Anruf durch das Pflegeteam „Holen Sie Ihren Angehörigen bitte wieder ab!“ Diese Sorge ist in der Regel völlig unbegründet, denn die meisten MieterInnen lassen sich schnell auf die neue Situation ein. Innerhalb der ersten drei Wochen sorgen wir für einen sehr engen Kontakt zwischen dem Pflegeteam und den neuen MieterInnen, so dass sie Vertrauen zu uns und ihrem neuen Zuhause aufbauen. Ihr Wohlergehen liegt uns sehr am Herzen und auch die anderen MieterInnen beziehen die neuen MitbewohnerInnen gleich in den Alltag der WG mit ein. Alleine ist hier niemand, es sei denn, man möchte sich zurückziehen – das geht natürlich jederzeit.“
Was ist die größte Herausforderung für die Angehörigen beim Umzug in die Demenz WG?
Nadine Koch: „In den Demenz WGs sind die Angehörigen und MieterInnen frei in ihren Entscheidungen – das ist ein ganz wichtig zu wissen. Sie sind die Mieter und haben das Hausrecht, d.h. sie können in der WG jederzeit ein- und ausgehen. Wir als Pflegeteam stellen die Versorgung der MieterInnen sicher und kümmern uns, dass sie die Unterstützung bekommen, die sie benötigen.
In der Eingewöhnungsphase ist es wichtig, dass die neuen MieterInnen sich an die Versorgung durch das Pflegeteam gewöhnen. Dies bedeutet auch eine Umstellung für die Angehörigen, die in dieser Phase lernen müssen, die Entlastung zuzulassen. Auch für die Angehörigen gibt es übrigens eine Art der Eingewöhnung, z.B. im Rahmen unseres Sommerfestes oder anderer WG-Feiern.“
Wie würden Sie die Demenz WGs mit Ihren eigenen Worten beschreiben? Was zeichnet sie aus?
Nadine Koch: „Für mich ist jede Demenz WG eine kleine, feine Familie – jeder achtet auf jeden, es gibt ein absolut warmherziges Miteinander. Natürlich gehören wie in jeder Familie auch hin und wieder Konflikte dazu. Das Tolle ist, dass niemand allein ist – es gibt jederzeit die Möglichkeit, gemeinsam zu essen oder gemeinsam spazieren zu gehen, aber es gibt auch jederzeit einen Raum für Rückzug.“
Franziska Weber: „Es ist immer wieder schön, zu sehen, wie die MieterInnen in den Demenz WGs sich gegenseitig motivieren und unterstützen. Ich erlebe die Demenz WGs als Ort, an dem neue Freundschaften entstehen – zwei der MieterInnen machen jetzt alles zusammen. Zuvor hatten beide noch nie eine beste Freundin, das holen sie jetzt nach. Aber die Demenz WGs sind hin und wieder natürlich auch ein Ort des Abschieds. Wenn ein Bewohner von uns gegangen ist, stellen wir ein Foto in der WG auf und zünden eine Kerze daneben an, um gemeinsam die Erinnerung zu bewahren.
Das Alleinstellungsmerkmal der Demenz WGs ist für mich jedoch eindeutig, dass wir uns viel Zeit für die Pflege nehmen können. Dies ist durch den Pflegeschlüssel in den Demenz WGs möglich, tagsüber kümmern sich mindestens zwei Pflegekräfte um maximal 12 MieterInnen. Im Alltag bedeutet dies, dass wir den BewohnerInnen die Zuwendung geben können, die sie brauchen – ohne auf die Uhr zu schauen.“
Mehr Informationen zu unseren Demenz WGs finden Sie hier.